Appalachian Trail

Im Sommer 2010 sind wir einen Teil des Appalachian Trails im Osten der USA gelaufen. Von Central Virginia ging es bis nach Pennsylvania hinein, insgesamt waren das knapp 500 Kilometer. Der Blog hält fest, was uns vor, während und nach der Tour bewegt hat:

Reisebericht Appalachian Trail - Teil 2

Ich hatte mir die Naechte in den Waeldern der Appalachen ganz anders vorgestellt: Absolute Stille, durchbrochen allenfalls von dem Knacken des Unterholzes, wenn sich ein hoffentlich friedfertiger Waldbewohner (Maus oder kleiner) zu einem Mitternachtsimbiss begibt. Ich lag damit ziemlich falsch. Hier ist es so unglaublich laut, man kann es kaum in Worte fassen. Es sind die Zikaden (hier "crickets"), die alles uebertoenen. Naechtlichen Besuch im Lager bekommt man wohl erst mit, wenn er einem den Fuss abkaut oder so.

Und ich muss zugeben, auch die Tage habe ich mir ein kleines bisschen anders vorgestellt: Die ersten 150 Meilen waren doch ziemlich anstrengend. Der Weg nimmt jeden kleinen Gipfel mit, selten geht es ein Stueck gerade. Man klettert ueber Felsen und Baumstaemme. Und entweder sieht man vor lauter Nebel die eigenen Fuesse kaum und schlottert bei der Mittagspause vor Kaelte - oder die Sonne meint es es etwas zu gut und treibt einem den Schweiss in Baechen das Gesicht herunter.
Trotzdem: Der Trail hat uns bereits jetzt eingefangen, wir haben eine grossartige Zeit. Das liegt auch an den vielen netten Menschen, die wir hier treffen. Nach dem Abschied von Dave in Daleville sind wir die ersten Meilen allein auf dem Trail gelaufen, aber schon ein paar Stunden spaeter trafen wir auf "Halffast", dem wir in den folgenden Tagen immer wieder begegnen sollten. Halffast ist seit April auf dem AT unterwegs, in Harpers Ferry wird er aufhoeren und im naechsten Jahr vielleicht den Rest des Weges gehen. Leider haben wir schon einige Tage nichts mehr von ihm gehoert, auch in den Log-Buechern in den Sheltern ist keine Spur von ihm. Hoffentlich ist alles in Ordnung.

Die ersten Tage nach unserem Stopp in Daleville war es fast untertraeglich heiss und zu allem Unglueck ist unser Wasserfilter am Wilson Creek Shelter ausgestiegen. Der Aquamira Frontier Pro hat der Wildnis der Appalachen ganze vier Tage getrotzt. Ich bin nicht ueberzeugt! Deshalb sind wir eine fuer unsere Verhaeltnisse ziemliche Moerdertour zum naechsten Campingplatz gelaufen, immerhin 18 Meilen. Und auf dieser Etappe haben wir unsere erste "Trail Magic" erlebt: Wasserflaschen und kleine Packungen mit Nuessen am Wegesrand - einfach zum Mitnehmen fuer muede Wanderer. Wir waren gluecklich! Wenige Meilen spaeter, wir kreuzten gerade den Blue Ridge Parkway (eine Strasse quer durch diesen Teil der Appalachen), spielte sich dann folgende Szene ab:

Wir erreichen den gluehenden Parkway als ein weisser Van anhaelt und ein etwas aelterer Mann aussteigt. Im Sueddstaaten-Slang fragt er, ob wir genug Wasser haben oder welches braeuchten. Wir koennen mit unseren Koepfen kaum schneller nicken: "Wasser waere wirklich prima!". Der Mann oeffnet seinen Kofferraum und belaedt uns mit Wasserflaschen. Und dann sagt er etwas, was sich etwa so anhoerte: "Need some ass?" - frei uebersetzt heisst das so viel wie: "Braucht ihr auch etwas Arsch?". Es dauerte eine Weile, bis wir begriffen, dass der Mann uns nicht etwa seinen Allerwertesten anbot, sondern bloss wissen wollte, ob wir Eis zu unserem Wasser moechten. Der breite Dialekt hier ist manchmal verwirrend.

Mit ausreichend Wasser ausgestattet haben wir uns dann in Richtung Campingplatz geschleppt, nicht ohne beim beruehmten Jenning's Creek Halt zu machen - einem so genannten swimhole - und uns in die Fluten zu stuerzen. Allerdings hatte ich mich gerade zu Halffast an Land begeben als ich Jule eilig aus dem Wasser rennen sah. Eine Schlange wand sich munter durchs Wasser, eine roetlich-braune noch dazu (die sind wohl giftig). Daran muss man sich hier erst noch gewoehnen.

Die letzte Meile gings dann flott zum Campground, der kalten Cola entgegen. Wir hofften, im Campingstore ein paar Wasserreinigungstabletten kaufen zu koennen oder zumindest ein Shuttle zu einem Outfitter in der Naehe zu bekommen, doch wir wurden enttaeuscht. Alles was sie hatten waren ein paar billige Ponchos, Schokoriegel und allerlei Klimbim. Wir bezahlten fuer die Nacht und richteten uns gerade auf dem Zeltplatz ein, als zwei Typen auf uns zu kamen: "Braucht ihr was vom Supermarkt? Wir fahren da jetzt hin. Ihr seid doch Wanderer?". Wieder war uns das Glueck hold. Wir erklaerten die Situation mit dem Wasserfilter und dass wir dringend etwas zur Bekaempfung darmreizender Bakterien braeuchten. Und ob es jemand glaubt oder nicht: Danny und Mike (so hiessen die beiden) sind eine (!) Stunde Umweg zum Wal Mart gefahren und haben uns diese Tabletten besorgt - nicht nur besorgt, GESCHENKT! Ich kann's noch immer nicht fassen. Danach sassen wir bei einem Bierchen bei Ihnen und sind aus dem Dankestammeln nicht mehr heraus gekommen. Irre, ehrlich.

Am naechsten Tag haben wir es ruhig angehen lassen: Fruehstueck im Store (das die Jungs AUCH noch bezahlt haben...), eine Runde schwimmen im Pool (ja, schon wieder), dann vier Meilen zum naechsten Shelter - dem Bryant Ridge Shelter, einem der groessten am Trail.
Tag sieben gehoerte dem Apple Orchard Mountain, mit 4225 Fuss eine der groessten Erhebungen auf unserem Trailstueck. Wie froh ich war, als wir endlich am Shelter und aus den Schuhen waren...
Tag acht brachten Regen und Nebel. Die Temperaturen sanken, der Appetit nach etwas anderem ausser Kartoffelbrei oder Reis stieg. Wir machten am Matts Creek Shelter Halt, entfachten trotz Naesse ein Lagerfeuer, kochten Tee und verkrochen uns in unsere Schlafsaecke. Noch drei Tage bis zur naechsten Dusche...

Der folgende Morgen. Jule und Susa sitzen im Shelter und mampfen schweigend den immergleichen Haferflockenbrei mit Nuessen. Ich werfe einen Blick in den Companion, registriere einen Campingplatz (mit Snack Bar) etwa acht Meilen entfernt von uns und schlage zaghaft einen Zwischenstopp vor. Jule ist gluecklicherweise sofort einverstanden. Ueber die James River Footbridge geht es auf den Highway und dann vier Meilen der Strasse entlang bis zum Wildwood Campground. Wir lassen die Rucksaecke fallen, schuetten Pepsi in uns hinein und sondieren die Menge an gefrorenen Cheeseburgern und Minipizzen. Nach einer Dusche und in sauberen Klamotten sitzen wir futternd unterm Sonnenschirm (die Sonne kam hinter den Wolken hervor) und wir fuehlen uns wohl. Nachdem wir unsere Schokovorraete fuer gefuehlte 100 Dollar aufgestockt hatten, ging es am naechsten Morgen mit Ken, dem Trail Angel, zurueck zum AT und dann elf Meilen zum Punchbowl Shelter. Und dort: wieder Glueck! Zwei Jungs feierten ihren letzten Tag auf dem Trail mit uns und liessen uns an ihren Vorraeten teilhaben. Wieder einmal ziemlich satt vergruben wir uns in die Schlafsaecke.

Tag elf brachte 14 Meilen inklusive dem Balt Knob mit 4059 Fuss (wieder einmal ohne Aussicht). Wir kamen ziemlich muede am Cow Camp Gap Shelter an und trafen dort auf eine Familie, die typisch amerikanisch ein BBQ veranstalteten. Erst guckten sie ein bisschen schief, als wir unser Zelt neben dem Shelter aufbauten, dann aber stuften sie uns offensichtlich als harmlos oder nur halbverrueckt ein. Wir bekamen jedenfalls reichlich Hotdogs ab und Baked Beans (eine Koestlichkeit!). Und sie weihten uns in das Geheimnis von S'mores ein: Man nehmen zwei Kekse, ein Stueck Schokolade, zwei Marshmallows. Man roesste die Marshmallows im Feuer, schmiere sie auf einen Keks, gebe das Stueck Schokolade hinzu, lege den zweiten Keks darauf, druecke einmal zu und beisse herzhaft hinein. Etwas Koestlicheres haben wir selten gegessen und seither gehoert es zu unserer Standard-Wanderer-Nahrung. Goettlich!

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Am 12. Tag erreichten wir dann Montebello Camping and Fishing. Einige Meilen zuvor hatten wir zwei Dayhiker getroffen, die ganz erstaunt waren, dass es in Montenello so etwas ueberhaupt geben sollte. Wir waren schon leicht panisch und folgten mit einem mulmigen Gefuehl dem Schild "Montebello Downtown". Haetten wir nicht gemusst: Jenes Downtown bestand aus exakt vier Haeusern. Eins davon war die Rezeption fuer den Campingplatz, der fuer Hiker pro Zelt sogar nur zehn Dollar kostete. Wir deckten uns mit Cola, Hotdogs, Buns, Beans, Schokolade, Marshmallows und Keksen ein und nach einer heissen Dusche veranstalteten wir selbst ein vorzuegliches kleines BBQ.

Tag 13 brachte wieder Regen. Viel Regen. Wir liefen 18 Meilen ueber den Spy Rock und den Priest zum Maupin Field Shelter. Leider liessen wir uns von einer "Abkuerzung" entlang des Mau-Har-Trail verfuehren, der uns zwar drei Meilen sparte - dafuer aber zu einer zwei-Stunden-Kraxelei ueber glitschige Felsen fuehrte. Ich war am Ende meiner Kraft und den Traenen nahe, als wir endlich das Shelter erblickten. Dort brannte bereits ein Feuer - wir waren auf Ret gestossen, einem ehemaligen Soldaten, der vor zwei Jahren seinen Thru-Hike bewaeltigt hatte und nun von Zeit zu Zeit auf dem AT wandert. Er begruesste uns kurz und militaerisch mit den Worten: "Hallo. Ich bin Ret, ein retired Marine. Seid ihr dem 500-Pfund-Baeren begegnet, der eben hier war? Und hoert ihr die Kojoten? Warum humpelst du?". Da hatte er auch schon Jule geschnappt, die wieder einmal Probleme mit dem Knie hatte. Es war dick und tat ziemlich weh. Military Man betastete das Knie sachte, Diagnose: Muskelfaserriss, kuehlen, hochlegen, bald einen Ruhetag einlegen. Jawoll, Sir! Am naechsten Morgen schmiss sich Ret in sein Funktionsoutfitt und spurtete zum naechsten Shelter. Wir schleppten uns die 15,8 Meilen hinterher. Jule ging es nicht sonderlich gut, ich schnaufte sowieso und wir erreichten erst gegen Abend das Paul C. Wolfe Shelter. Ret war bereits seit Stunden dort, hatte gegessen, ein Schlaefchen gemacht und ein Feuer entzuendet. Wir packten zu seiner Ueberraschung Hotdogs und S'mores aus und endlich taute er ein wenig aus seiner Militaerstarre auf. Es war ein lustiger Abend voller spannender Geschichten aus seiner aktiven Zeit bei den Marines, als er ueberall auf der Welt stationiert war. Das Shelter war im Uebrigens eines der schoensten bisher, mit einer kleinen Veranda zum Kochen und viel frischem Wasser.

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Tag 15: Waynesboro. Wir haben uns von Ret verabschiedet und machten uns an die letzten fuenf Meilen bis zum Visitors Center, vier Meilen von der Stadt entfernt. Kurz bevor wir die Strasse erreichten, hoerten wir ein tiefes Schnaufen hinter uns - kein Baer, sondern Ret, der spontan beschlossen hatte auf eine Cola am Besucherzentrum mitzukommen. Dort angekommen rief die nette Dame an der Information einen Trail Angel an, der uns kostenlos zum YMCA Family Center in Waynesboro brachte, wo uns kosenlose Duschen und ein freier Campingplatz erwartete. Ret huepfte mit ins Auto, er hatte jetzt Kaffeedurst. Nach einer sehnlichst erwarteten Dusche trafen wir uns alle zum Lunch in Ming's Garden - ein All-you-can-eat-China-Buffet. Ich habe noch nie in meinem Leben so viel gegessn. Es gab alles: Sushi, frische Meeresfruechte, unzaehlige Sorten Huehnchen, Dumplings, Suppen, Wantans, Fruehlingsrollen, Kekse, Kuchen, Eis, Obst. ALLES. Ich hatte kurz Sorge, dass wir gerade unser gesammtes Reisebudget vertilgten. Ich irrte. Es kostete 7 Dollar pro Person. Danach lag ich 20 Minuten auf der Bank vor dem Restaurant, unfaehig mich in irgendeiner Form zu bewegen. Jule schleppte mich schliesslich zum Laundromat, wir schmissen die Dreckklamotten in die Maschine und doesten eine Stunde vollgefuttert und halbnackt (zum Wechseln haben wir, naja, nichts dabei. Ausser vielleicht meinem Regenponcho...) im Waschsalon herum. Danach gings zurueck zum Campground, wo schon - richtig - Ret auf uns wartete. Er hatte eigentlich wieder aufbrechen wollen, aber es sah nach Regen aus, deshalb beschloss er, auch am YMCA zu bleiben. Wir waren froh, denn zwischenzeitlich war ein sehr merkwuerdiges und sehr betrunkendes Paar eingetroffen, dass irgendwie auch den Trail wanderte. Unangenehme Menschen. Das Maedel krallte sich staendig an mir fest und fluesterte: "Say something mean, bitch." Und der Typ war kaum noch in der Lage, sein Bier zum Mund zu fuehren. Wir verabschiedeten uns bald und kuschelten uns in die Schlafsaecke.

Heute also sind wir in Waynesboro, wir haben einen Ruhetag eingelegt. Endlich mal ein bisschen Zeit umherzuschlendern, Kaffe zu trinken und die Computer in der Bibliothek zu besetzen. Vorhin haben wir Vorraete fuer die naechsten Tage eingekauft, morgen geht es in den Shenandoah Nationalpark.
Uebrigens: Ratet, wer am Supermarkt auf uns wartete und eigentlich laengst wieder auf dem Trail sein wollte. Richtig, Ret. ;)

So, wer es bis hierher geschafft hat - yeah! Es ist einfach so viel passiert bisher und noch laengst ist nicht alles erzaehlt. Das naechste Internet wird auch wieder auf sich warten lassen, vermutlich melden wir uns erst wieder am 13. August.